Belästigung per Smartphone: Schüler leiden unbemerkt

München – Es sind nur ein paar wenige Klicks, schon ist der Kopf der Klassenkameradin auf den Körper der Pornodarstellerin montiert und das Sex-Video an die ganze Jahrgangsstufe verschickt.

Die Betroffene wird kurz darauf mit Nachrichten bombardiert – mit Worten und Aufforderungen, die üblicherweise nicht in einer Zeitung stehen. Die Folgen für die Jugendliche kann sich jeder ausmalen. Ein Einzelfall? Bei weitem nicht, betonen Lehrer und Polizisten unisono.

Eltern sind oft ahnungslos

Beleidigung, Bedrohung, sexuelle Belästigung und Nötigung sowie Erpressung per Smartphone gibt es den Experten zufolge an nahezu jeder Schule. Doch oft genug bekommen die Erwachsenen diese Fälle gar nicht mit. Die Täter polieren auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein auf, die Mitwisser halten aus Angst lieber die Klappe, die Opfer schweigen aus Scham – und allen zusammen ist oftmals nicht bewusst, dass Grenzen verletzt werden, die zu überschreiten noch vor kurzem undenkbar schien.

«Die Welt da draußen, so verroht sie manchmal ist, so schlampig und vulgär, so sexistisch und rassistisch und antisemitisch, ist in der Welt der Kinder angekommen», schildert Simone Fleischmann, Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). Eine große Rolle spielen dabei die sozialen Medien, die die Kommunikation in unserer Gesellschaft verändert haben – und damit auch die Kommunikation in den Schulen.

Täter erhalten Schutz durch Anonymität des Netzes

«Live im Pausenhof jemanden zu mobben, ist sichtbar. Da kann man sofort reagieren», schildert Fleischmann. «Im Netz herrscht die Anonymität. Da schreibt man leicht, was man jemandem so nie ins Gesicht gesagt hätte.»

Doch während die Täter sich tatsächlich immer wieder in der Anonymität des Netzes verstecken können, sieht es für die Opfer ganz anders aus: «Derjenige, der dieses Nacktbild mit meinem Kopf gestern in die Klassenchatgruppe gestellt hat, begegnet mir am nächsten Tag im Klassenzimmer, und alle anderen begegnen mir auch. Damit ist die digitale Anonymität überschritten, und das packen die Jugendlichen nicht», berichtet Fleischmann. «Das führt zu echten psychischen Krankheiten und zur Vermeidung der Gruppe, die das alles mitgekriegt hat.» In aller Regel sind es die Opfer, nicht die Täter, die in schlimmen Fällen die Schule wechseln.

Opfer fühlen sich schuldig

Das Fatale ist: «Die Opfer suchen die Ursachen bei sich. Das führt zu ganz massiven Selbstwertschädigungen», erklärt Ilka Hoffmann, Schulexpertin der Bildungsgewerkschaft GEW. Die meisten zögen sich stark zurück. Während Jungs manchmal aggressiv würden, komme es bei Mädchen häufiger zu selbstverletzendem Verhalten.

Das erleben auch Esther Papp und Cem Karakaya immer wieder. Sie befassen sich am Polizeipräsidium München mit Prävention und haben täglich mit Sexting, Sextorsion, Cybermobbing und Cybergrooming zu tun – Begriffe, die viele Eltern noch nie gehört haben, im Leben vieler Kinder aber Alltag sind.

Unter Sexting versteht man die zunächst freiwillige, sexuell motivierte Kommunikation – also das gegenseitige «Scharfmachen» durch Chatnachrichten oder freizügige Aufnahmen, die unter Jugendlichen oft als Liebesbeweis eingefordert werden. Sextorsion wird daraus, wenn diese Bilder oder Videos zur Erpressung eingesetzt werden. Cybermobbing ist das Fertigmachen und Bloßstellen Einzelner über digitale Medien, meist über einen längeren Zeitraum. Und Cybergrooming ist die digitale Kontaktaufnahme zu Minderjährigen mit dem Ziel, ein digitales oder reales sexuelles Verhältnis zu beginnen. Oft geben sich dabei erwachsene Täter als Jugendliche aus.

Was sagt die Kriminalstatistik?

Exakte Zahlen zu diesen Phänomenen gibt die Kriminalstatistik nicht her. Lediglich der Besitz und die Verbreitung pornografischen Materials durch Schüler wird erfasst – allerdings auch nur die geklärten Fälle. Nach den jüngsten Daten von 2017 waren dies gerade einmal 116. Doch selbst das Landeskriminalamt in Bayern geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus.

«Wir könnten als Polizei pro Tag pro Schule mindestens 400 Handys beschlagnahmen und Anzeigen erstellen», ist Karakaya überzeugt. Der Beamte geht regelmäßig an Münchner Schulen, um das Bewusstsein der Heranwachsenden zu schärfen. Völlig nüchtern resümiert er, dass Pornos für Siebtklässler inzwischen Alltag sind, die Zwölfjährigen zugleich aber kein Bewusstsein dafür hätten, dass vieles von dem, was ihnen täglich in den sozialen Netzwerken begegnet, Straftaten sind: etwa Bedrohung, sexuelle Belästigung und Nötigung oder die Verletzung des Rechts am eigenen Bild oder des höchstpersönlichen Lebensbereiches.

Aufklärung durch die Polizei

«Wir möchten die Täter nicht bloßstellen», sagt Karakaya über den Ansatz der polizeilichen
Präventionsarbeit. «Stattdessen soll jedes Kind nachvollziehen können, wie sich die Opfer fühlen.» Diesen geben die Beamten den Ratschlag, sich so früh wie möglich an einen verantwortlichen Erwachsenen zu wenden, Übergriffe etwa per Screenshot zu dokumentieren und im Zweifel auch Anzeige zu erstatten, «um zu zeigen, dass du dir nicht alles gefallen lässt, dass du nicht das Opfer bist, dass du dich wehrst».

«Das sind knallharte Sachen, die die Jugendlichen psychisch gar nicht verarbeiten können», erlebt auch Papp immer wieder. Die Folgen reichten bis hin zum Suizid. Karakaya rät den Schülern deshalb, sich immer zwei Fragen zu stellen, bevor sie etwas posten: «Muss das sein? Und kann es sein, dass ich es später – vielleicht schon morgen – bereue?» Oft erlebe er, dass die Schüler regelrecht schockiert seien, wenn er ihnen zeige, welche Informationen Facebook & Co. über sie preisgeben.

Karakaya und Papp wissen, dass ihre Arbeit nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Sie sehen in erster Linie die Eltern in der Verantwortung – doch die setzten sich mit den Gefahren der digitalen Welt viel zu selten auseinander, geschweige denn, dass sie den Weg mit ihren Kindern gemeinsam beschreiten würden. «Es ist ja bequem, wenn die Kinder mit ihren Smartphones in ihrem Zimmer verschwinden», bilanziert Papp. «Doch hinterher ist das Geschrei groß, wenn was passiert ist.»

Was Betroffene tun können

Cybermobbing ist nur der Anfang: Wenn Jugendliche in sozialen Medien schlimme Erfahrungen machen, sollten sie sich Hilfe holen – auch wenn es teils schwerfällt. Beste Anlaufstelle dafür sind natürlich die Eltern oder die Lehrer.

Zusätzliche Unterstützung gibt es im Internet oder direkt auf dem Smartphone: Von der Webseite Klicksafe.de gibt es die kostenlose App
«Cyber-Mobbing Erste-Hilfe» mit Hilfe-Videos, rechtlichen Tipps und Kontaktdaten weiterer Beratungsstellen. Individuelle, schriftliche Beratung bieten der
Kika-Kummerkasten und das damit verbundenen Beratungsteam der Diakonie. Und telefonisch hilft die «Nummer gegen Kummer» weiter.

Hierhin können sich auch Mütter und Väter wenden, die ihren Kindern helfen wollen: Die «Nummer gegen Kummer» hat ein eigenes Elterntelefon für solche Fälle. Weitere Tipps für Eltern hat zum Beispiel die Initiative
«Schau hin!» auf ihrer Webseite gesammelt. Und Fälle von sexueller Belästigung, Nötigung oder Erpressung in sozialen Medien sind natürlich auch ein Fall für die Polizei.

Service:

Jugendtelefon der «Nummer gegen Kummer»: 116 111 (Kostenlos, Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr)

Elterntelefon der «Nummer gegen Kummer»: 0800 11 10 550 (Kostenlos, Montag bis Freitag von 9 bis 11 Uhr, Dienstag und Donnerstag zusätzlich von 17 bis 19 Uhr)


(dpa)

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