Überraschende Eindrücke im katalanischen Girona
GIRONA – «Hier will ich nie leben.» Das war der erste Gedanke, den Quim Puerto (45) hatte, als er im Alter von acht Jahren zum Arzt nach Girona musste. Damals empfand der Junge von der katalanischen Küste die Stadt im Inland als «feucht und verwahrlost».
Sein Bild von der Stadt hat sich inzwischen deutlich gewandelt: Seit eineinhalb Jahrzehnten lebt der studierte Touristiker hier – und ist mittlerweile begeistert von den aufgefrischten Ansichten, «dem Konzentrat aus 2000 Jahren Geschichte, der Kultur und der Gastronomie».
Am schönsten präsentiert sich Girona am Fluss Onyar: Im Wasser spiegeln sich bunte Häuserreihen, aufgeschichtet wie aus Legobaukästen, dazu die Türme der Kathedrale und der Basilika Sant Feliu. Unübersehbar auch die Fußgängerbrücke aus den Werkstätten Gustave Eiffels.
Überraschende Ansichten
Früher kam man nur nach Girona, wenn es an der Küste regnete, lautet ein böser Spruch. Dabei schwärmte schon in den sechziger Jahren der katalanische Schriftsteller Josep Pla (1897-1981) über die Stadt: Girona besitze «eine immense Persönlichkeit», es sei «eine scharfsinnige Stadt, die sich durch die Jahrhunderte hinweg erhalten hat, eine Stadt von angehäufter Sensibilität, von einer unerschöpflichen spirituellen Stärke, überraschend.»
Überraschende Ansichten gibt es in der Tat viele: Gassen, Plätzchen, Kopfsteinpflaster, Bruchsteinfassaden, Freiluftcafés und Balkone voller Blumentöpfe, Pflanzengehänge und trocknender Wäsche fügen sich zu einer Art Mosaik.
Besonders stimmungsvoll geht es am Abend zu, wenn die Tagesbesucher abgezogen sind. Dann verfängt sich auf dem Platz Independència der gedämpfte Stimmenhall von den Restaurantterrassen in den Arkaden. Dann atmet das Altstadtviertel Call wieder Stille, während das Laternenlicht über Treppenstufen und metallene Handläufe kriecht.
Eines der größten Judenviertel
Was so idyllisch wirkt, ist mit Tragik behaftet. Die Call um die Gassen Força und Sant Llorenç war im Mittelalter das Judenviertel Gironas, eines der größten in Spanien. Es gab Synagogen, Bäder, eine kabbalistische Schule, Wohnhäuser mit Innenhöfen und Gärten.
Girona brachte Gelehrte, Dichter und Ärzte hervor, doch auf Dauer stieg die Intoleranz gegenüber den Andersgläubigen. Ein Pogrom im August 1391 bedeutete den Anfang der Vertreibung der Juden aus Girona, die ein Jahrhundert später landesweit ihren traurigen Abschluss fand. Das Thema vertieft das gut aufbereitete Jüdische Geschichtsmuseum, zu dessen Exponaten Grabplatten vom jüdischen Friedhof zählen.
Monumentales Erbe und Kuriosa
Während im historischen Judenviertel wirklich Juden lebten, hat sich in den «Arabischen Bädern» (Banys Àrabs) woh kein Araber geaalt. Die Anlage aus dem Hochmittelalter wurde einzig dem Stil eines maurischen Badehauses nachempfunden. Ab dort schafft ein Aufstieg Anbindung an die Stadtmauerpromenade, deren freier Eintritt ein nettes Zeichen von Willkommenskultur setzt. Der Perspektivwechsel über Häuserdächer und Gärten ist fantastisch.
Im Blick liegt die Kathedrale, zu der eine breite Freitreppe aufsteigt, auf der sich gelegentlich Selfie-Darsteller in widersinnigsten Verrenkungen üben. Josep Pla sang einst sein literarisches Loblied auf die «ungeheure, herrschaftliche Gotik» des Doms, der «nicht einen, sondern hundert Besuche» verdiene.
Diese Meinung mag man im Vergleich zu anderen Kathedralen Spaniens nicht teilen, doch der Kirchenschatz bewahrt ein Highlight: den Schöpfungsteppich, ein Unikat romanischer Textilkunst mit dem Pantokrator im Zentrum, Lichtengeln, Meeresgetier und einer fast clownesken Sonne mit ihrem abstehenden Strahlenhaar.
Die Kuriosa setzen sich im Kreuzgang in Reliefszenen fort. Eine richtet den Fokus auf einen Höllenkessel mit züngelnden Flammen mit gehörnten Teufelsfiguren. Eine andere zeigt den Sündenfall, für den der Künstler – lokal inspiriert durch den Weinbau oder dessen Erzeugnisse – die Bibelstelle um die verbotenen Früchte als Verzehr von Trauben interpretierte.
Architektur, Begegnungen, Kulinaria
Zurück in andersartige Stücke Vergangenheit geht es im Museumshaus des Architekten Rafael Masó (1880-1935). Direktor Jordi Falgàs (54) übernimmt manchmal selber Führungen durch «dieses typische Haus der Bourgeoisie von vor hundert Jahren», das Masó im Stil des Noucentisme, des katalanischen Neoklassizismus, umgestaltete.
Das Anwesen über dem Onyar kommt genauso wenig von der Stange wie das, was Kunstschmied Sergi Cadenas (47) in seiner Werkstatt «Ferros d’Art Cadenas» nach alter Väter Sitte fertigt und Sergi Ballús (40) und Rose Rivas (45) im Altstadtrestaurant «Occi» avantgardistisch komponieren. Mit dem legendären Sternenbrecher «Celler de Can Roca», das schon als bestes Restaurant der Welt geadelt worden ist, können sie es freilich nicht aufnehmen.
Typisch für Gironas Küche ist die Fusion aus «Meer und Bergen» «Mar i Muntanya» – was sich beim Kochpaar Ballús und Rivas privat fortsetzt. «Schweinsfüße mit Hummer», schwärmt Rose von dem, was ihr Sergi daheim in der Küche am besten zubereitet. Im Restaurant wird man das jedoch nicht auf der Karte finden, bekräftigt Sergi Ballús, denn: «Das Gute daran ist, dass man sich ohne Scham die Finger ableckt – und zwar nicht in der Öffentlichkeit.»
Lage: Girona liegt 65 Kilometer entfernt von der französischen Grenze und 100 Kilometer entfernt von Barcelona.
Anreise: Erreichbar ist die Stadt mit dem Auto, per Bahn oder mit dem Flugzeug.
Reisezeit: Frühjahr bis Herbst.
Auskunft: Spanisches Fremdenverkehrsamt, Reuterweg 51-53, 60323 Frankfurt am Main, Tel. 069-725033, frankfurt@tourspain.es
Webseite von Girona: www.girona.cat/turisme/eng
(dpa/tmn)