Trauer ist keine Krankheit: Kindern Raum zum Trauern bieten

München – Erwachsene zeigen oft vor ihren Kindern keine Trauer, denn sie wollen stark bleiben. Aber wie sollen Kinder lernen mit Trauer umzugehen? «Die schauen sich ab, wie Mama oder Papa trauern», erklärt Tobias Rilling, Leiter des Zentrums für trauernde Kinder und Jugendliche Lacrima in München.

«Wenn Eltern das verbergen, sie stark sein wollen und das überspielen, dann ist das immer schwierig. Dann machen die Kinder das nach», erklärt der Experte. Die Idee für eine Trauereinrichtung speziell für Kinder, die eine Bezugsperson verloren haben, kam ihm bei einem Zeltlager der evangelischen Gemeinde, bei dem auch ein Junge dabei war, dessen Vater kurz zuvor gestorben war. Heute arbeitet Rilling mit 48 ehrenamtlichen Trauerbegleitern. Sie kümmern sich derzeit um 74 Familien, die mit der Trauer ihrer Kinder überfordert sind.

Seit Juni gibt es die Zentrale, finanziert durch die Johanniter-Unfall-Hilfe. Die Lacrima-Räume erinnern nicht an Zuhause. Es hängen abstrakte Kunstwerke aus Schwemmholz an den Wänden und ein großes, buntes Werk mit aufgeklebten Herzen, Luftschlangen und Glitzer aus einer Gruppenstunde: «Party im Himmel». Zuhause hingegen hingen noch Kleidung und Bilder der Verstorbenen, das mache befangen.

Hier wird gemalt, getobt, geträumt und sich einander anvertraut. «Trauer lässt sich nicht unterdrücken. Das aktive Unterdrücken braucht Kraft. Diese Kraft geht mir als Lebensenergie weg und ich rutsche irgendwann in eine Depression oder andere Verhaltensstörungen». Rilling betont: «Trauer ist keine Krankheit». Sie zu unterdrücken, könne krank machen. Das Schlimmste sei, das Kind von der Trauer auszuschließen und das Thema zu wechseln, wenn es dazu komme. Das könne dazu führen, dass sich Kinder schuldig fühlen, «weil sie immer versuchen, einen pragmatischen Zusammenhang zum Ereignis herzustellen. Und der einfachste ist: Ich bin schuld am Tod.»

Kinder und Erwachsene unterscheiden sich beim Trauern und beim Verständnis von Tod. Dabei spielen der kognitive und der emotionale Entwicklungszustand und die teils noch nicht ausgereifte sprachliche Ausdrucksweise eine Rolle. Zudem seien Kinder unterschiedlich weit entwickelt, sagt Diplom-Psychologe Joachim Wittkowski, der als Seniorprofessor der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg angehört. Er erklärt: «Erst mit etwa neun oder zehn Jahren haben Kinder das gleiche todeskonzeptliche Weltbild wie Erwachsene entwickelt und können realisieren, was Tod eigentlich bedeutet».

Auch Rilling kennt durch seine Arbeit das Todesverständnis von jüngeren Kindern: «Bei einem Fünfjährigen kommt da die Aussage: Wieso sind in dem Sarg keine Luftlöcher? Das ist keine doofe Frage, das ist eine Entwicklungsstandfrage. Und Kinder reagieren emotionaler als Erwachsene.» Denn ihnen fehlen Vergleiche mit anderen Trauerfällen.

Wichtig sei der emotionale Entwicklungszustand der Kinder, sagt Psychologe Wittkowski. Sie seien noch derart abhängig von ihren Bezugspersonen, dass beim Verlust eines Elternteils für sie auch das Familiengefüge zerbreche. Neben Mutter oder Vater werde ihnen auch die emotionale Sicherheit der bisher kompletten Familie genommen.

Die zweiwöchigen Gruppenstunden bei Lacrima beginnen jedes Mal mit einem Ritual: Die zehn Kinder sitzen auf runden Kissen im Kreis und zünden Kerzen für ihre Verstorbenen an. «So ist das Thema schon mal genannt und besetzt: Deswegen bist du hier, nicht wegen irgendwelchen Spielen», erklärt Rilling. Einzelbetreuung gebe es nicht. «Ganz bewusst nicht, weil wir sagen, Trauer gehört in eine Gemeinschaft. Es muss gesehen, bestätigt, akzeptiert werden. Kinder können sich auch gegenseitig stützen.» 1,5 bis 2 Stunden dauern die Gruppentreffen, je nachdem was die Kinder machen wollen.

Im Kreativraum stehen große Tische, kistenweise Stifte und Boxen mit Steinen oder Hölzern. Noch ist die Wand weiß, sie soll als Leinwand dienen. Blaue Matten sind in einem anderen Raum ausgelegt und große Spielsteine stehen herum. Von der Decke hängt ein Boxsack. «Zum Wut rauslassen und Dampf ablassen. Ich bin sauer auf den, der sich das Leben genommen hat.» Das dürfe manchmal daheim nicht gesagt werden. «Aber die ganze Palette der Gefühlsäußerungen gehört zum Trauern dazu.» Rilling verspricht: «Alles was in diesen Räumen passiert, bleibt in diesen Räumen. Sie müssen hier keine Rolle übernehmen. Sie müssen nicht schauspielern. Sie können so sein wie sie sind.»

Aufgrund empirischer Befunde zu den Wirkungen von Interventionen bei trauernden Erwachsenen hält Wittkowski eine generelle Trauer-Intervention allerdings für kritisch. Er warnt vor therapeutischem Übereifer, denn das könne Nebenwirkungen haben. Etwa wenn das Kind die Behandlung hinterfragt und denkt, es wäre krank, nur weil es trauert. Man solle erst eine Diagnose stellen, ob tatsächlich Trauerbegleitung nötig sei.

An der Fassade vor den Räumen von Lacrima steht gerade ein Baugerüst, mit einer Plane abgedeckt. Es herrscht reges Treiben draußen, es wird geklopft und gebohrt: Hier wird gebaut, es geht voran. Auch das Leben geht weiter. Das versucht man bei Lacrima zu zeigen. «Die Kinder sind im Schnitt 2,5 bis 3 Jahre bei uns. So lange dauert es, bis die Kinder wieder selbst sagen «Ich brauche Lacrima jetzt nicht mehr»».


(dpa)

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